Die deutschen Kurorte und ihre natürlichen Heilmittel

Thalassotherapie

Prof. Dr. Carsten Stick / Dr. Volker Harms

Die physiologischen Wirkungen des Seeklimas, die in den drei Wirkungskomplexen, luftchemischer, thermischhygrischer und photoaktinischer Wirkungskomplex beschrieben werden, sind besonders geeignet, in Therapie, Rehabilitation und Prophylaxe von chronischen Atemwegserkrankungen und chronischen Dermatosen genutzt zu werden, weiter für Abhärtungskuren von Kindern bei chronisch-rezidivierenden Infekten. Allgemein ist das Klima für körperliche Aktivität zum Ausgleich von Bewegungsmangel vorteilhaft.
Die Thalassotherapie ist im Wesentlichen eine Klimatherapie an der See, ergänzt um einige zusätzliche Elemente, die über den Bereich der Klimatherapie hinausgehen. Der Begriff Therapie ist hierbei weiter zu fassen als im medizinischen Sinn. Denn neben der Therapie vorwiegend chronischer Erkrankungen spielt die Thalassotherapie gleichfalls in der Rehabilitation und der primären und sekundären Prophylaxe dieser Erkrankungen eine Rolle. Darüber hinaus wird das Meeresklima auch zur Erholung und im Rahmen von Wellnessangeboten gesundheitlich genutzt.
 
Von dieser weitgefassten jedoch rational begründeteten Thalassotherapie, die tatsächlich an der See durchgeführt wird und das Meeresklima nutzt, ist die Flut von Produkten abzugrenzen, die unter dem Modewort „Thalasso“ vermarktet werden. Diesem Ziel dient eine europaweit gültige Definition des Begriffs Thalassotherapie, die der Europäische Heilbäderverband im Mai 2003 verabschiedet hat. Hiernach darf von Thalassotherapie nur dann gesprochen werden, wenn folgende acht Punkte erfüllt sind:

  1. Definition: Thalassotherapie ist ein integriertes Konzept zur Therapie, Prävention und Gesundheitsförderung. Das Konzept wird für definierte Indikationen unter ärztlicher Betreuung und Mitwirkung entsprechend qualifizierten Fachpersonals durchgeführt.
  2. Behandlungsort direkt am Meer
    Die Thalassotherapie wird in unmittelbarem Einfluss des Meeresklimas durchgeführt.
  3. Meerwasser
    Meerwasser wird zum natürlichen Seebad genutzt. Lokal gewonnenes und geeignetes Meerwasser wird zum Inhalieren und/oder zum Baden, z.B. als Wannenbad oder im Schwimmbad genutzt.
  4. Meeresprodukte
    Für unterschiedliche Anwendungen können z.B. Schlick oder Algen usw. genutzt werden.
  5. Allergenarme und saubere Seeluft
    Die Luftqualität muss als Entlastungsfaktor bei ausgedehnten Freiluftaufenthalten genutzt werden können.
  6. Heliotherapie
    Für die Heliotherapie wird primär natürliche Sonnenstrahlung genutzt, bei ungünstigen Wetterverhältnissen wird die Heliotherapie durch künstliche UV-Strahlen ergänzt.
  7. Klimaexposition und Bewegungstherapie
    Klimaexposition und Bewegungstherapie werden dosiert in der ufernahen Zone durchgeführt.
  8. Begleitende gesundheitsbildende Maßnahmen
    Begleitende gesundheitliche Maßnahmen werden mit den Schwerpunkten Entspannung, Ernährungsumstellung und körperliche Aktivität zur Verbesserung der physischen Leistungsfähigkeit durchgeführt.

Wirkungskomplexe der Klimaphysiologie

Um die physiologischen Wirkungen des Meeresklimas auf den Organismus zu beschreiben, werden die meteorologischen Klima- und Wetterelemente, also physikalische Größen zur Beschreibung der Atmosphäre, zu sog. Wirkungskomplexen zusammengesfasst.
 
Es werden drei Wirkungskomplexe unterschieden:
  1. der luftchemische Wirkungskomplex
  2. der thermisch-hygrische Wirkungskomplex
  3. der photoaktinische Wirkungskomplex.
Jeder Wirkungskomplex kann belastende und entlastende Faktoren, aber auch Reizfaktoren enthalten.
 
Der luftchemische Wirkungskomplex umfasst neben Luftdruck und Luftfeuchte Luftbeimengungen wie Pollen, die Hausstaubmilbe, das Brandungsaerosol oder Abgase aus Industrie, Hausbrand und Verbrennungsmotoren. Darüberhinaus spielen Stäube aus Verbrennungsprozessen eine zunehmend wichtige Rolle. Weitere Stäube werden vom Autoverkehr durch Reifenabrieb erzeugt oder von versiegelten Flächen aufgewirbelt. Trotz der Fortschritte im Umweltschutz ist der Mensch in den Ballungsgebieten nach wie vor in erheblichem Maße Reizgasen und Stäuben ausgesetzt.

Wegen der hervorragenden Luftqualität an den deutschen Küsten mit ungewöhnlich geringen Schadstoff- Konzentrationen an SO2, NOx und Feinstäuben stellt das Meeresklima für die Atemorgane und die Haut eine Entlastung dar. Reizungen der Schleimhäute entfallen, die Clearancefunktion des Bronchialsystems wird weniger beansprucht. Diese Schonfaktoren begünstigen die Abheilung oder zumindest die Linderung chronischer Atemwegserkrankungen und haben positive Effekte bei gestörter Barrierefunktion der Haut.
 
Das Brandungsaerosol hingegen wirkt wie ein Freiluft-Inhalatorium und trägt damit zur Besserung chronischer Atemerkrankungen bei. Dies gilt besonders an der Nordsee, wo das Brandungsaerosol hyperton ist und damit verflüssigend auf das Bronchialsekret wirkt.
 
Indikationen: Von diesen Eigenschaften profitieren Patienten mit chronischen Atemwegserkrankungen, mit vorgeschädigten Luftwegen, eingeschränkter Funktionsreserve oder hyperreagiblem Bronchialsystem. Als Indikation sind insbesondere zu nennen: Chronisch rezidivierende Bronchitis, Asthma bronchiale, Heuschnupfen, Rhinitis, Sinusitis.
 
Schließlich ist auch für Gesunde frische Seeluft ein Motiv für den Aufenthalt an der See.
 
 
Der thermische-hygrische Wirkungskomplex besteht aus Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, Windgeschwindigkeit und Wärmestrahlung. Diese Wetterelemente wirken auf die Thermoregulation, das Herz-Kreislauf-System und wahrscheinlich auch auf das Immunsystem. Letzteres wird in sog. Abhärtungskuren genutzt.
 
Der thermische Wirkungskomplex kann den Organismus durch Schwüle, also hohe Lufttemperaturen mit geringen Windgeschwindigkeiten und hoher Luftfeuchtigkeit belasten. Die Thermoregulation unter Wärmebelastungen erfordert eine enorme Steigerung der Hautdurchblutung, was unter Extrembedingungen das Herzzeitvolumen auf mehr als das Doppelte des Ruhewertes ansteigen lässt. Hinzu kommt der Bedarf für die energieaufwändige Schweißproduktion. Besonders für Menschen mit eingeschränkter Funktionsreserve des kardiopulmonalen Systems bedeuten Hitze und Schwüle einen starken Stress. Die Möglichkeiten für körperliche Aktivitäten sind erheblich eingeschränkt, dies gilt bereits für Menschen mit guter Kondition, umso mehr für Patienten mit eingeschränkter Funktionsreserve.
 
Umgekehrt sind die Beanspruchungen des Herz-Kreislaufsystems in kühler Umgebung gering, die Funktionsreserven können durch körperliche Belastungen ausgeschöpft werden, die subjektive Bereitschaft hierzu ist größer als in der Wärme.
 
Unter diesem Aspekt ist das Meeresklima an den deutschen Küsten als Schonfaktor zu werten. In dem feuchtgemäßigt-maritimen Klima überwiegen Kühlreize, die bei ausgeglichenen Temperaturen wesentlich durch den fast stets wehenden Wind bedingt sind. Der typische schnelle Wechsel der Wettersituationen verlangt entsprechende thermoregulatorische Reaktionen des Organismus, was als Reizfaktor wirkt.
 
Durch gezielte und dosierte Expositionen gegenüber Kühlreizen lässt sich während Klimakuren eine Adaptation erreichen, welche zu einer verminderten Infektanfälligkeit führt und unter dem Schlagwort Abhärtung bekannt ist.
 
Die Anwendung des thermischen Wirkungskomplexes in diesem Sinne hat in Form der Abhärtungskuren bei Kindern eine lange Tradition. Als pathophysiologisch wirksame Mechanismen werden sowohl immunologische Faktoren diskutiert als auch adaptative Umstellungen der Schleimhautdurchblutung. So konnten Untersuchungen aus dem Institut für Medizinische Klimatologie, der Klinik für Allgemeine Pädiatrie der Universität Kiel und der Fachklinik Sylt für Kinder und Jugendliche der LVA Hamburg zeigen, dass die Konzentration des Immunglobulin A im Speichel von Kindern, die an einer sechswöchigen Klimakur teilgenommen hatten, am Ende des Aufenthalts an der See signifikant erhöht waren.
 
Bei der Anwendung von Kühlreizen und auch ganz allgemein von thermischen Reizen muss stets darauf geachtet werden, dass lediglich die Körperschale abkühlt und keinesfalls allgemeine, d. h. über die Körperschale hinausgehende auch den Körperkern betreffende Unterkühlung eintritt. Aus diesem Grund sollte vor der Anwendung von Kaltreizen stets darauf geachtet werden, dass der Körper hinreichend warm ist.
 
Indikationen für eine Abhärtung durch Kaltreize sind insbesondere eine erhöhte Infektanfälligkeit, eine bronchiale Hyperreagibilität. Auch bei vegetativer Dystonie und in der Rekonvaleszenz ist eine behutsam durchgeführte Klimatherapie wirksam.
 
Ein kühles Klima ist ideal geeignet, um Ausgleichssport zu treiben zur Kompensation des Bewegungsmangels, der für die meisten Menschen der modernen Gesellschaft typisch ist. Hier ergeben sich Möglichkeiten, den modischen Trend zu Fitness und Wellness gesundheitlich zu nutzen.
Der photoaktinischer Wirkungskomplex wirkt über das sichtbare Licht sowie insbesondere die ultraviolette Sonnenstrahlung. Die sprachlichen Parallelen zur Beschreibung des Himmels und von Stimmungen (heiter, trüb, strahlend, aufhellen, verdüstern usw.) weisen auf die psychischen Wirkungen des Lichts.
 
Die auf zellulärer Ebene stärksten Wirkungen des photoaktinischen Wirkungskomplexes entfaltet die ultraviolette Sonnenstrahlung. Diese fällt jedoch zum großen Teil nicht mit der direkten Sonnenstrahlung, sondern als diffus gestreute Strahlung aus dem Himmelsblau ein und ist auch bei bedecktem Himmel noch in wirksamer Intensität vorhanden.
 
Physiologische Wirkungen der Ultraviolettstrahlung sind die photochemische Bildung des Vitamin D3 in der Haut, die Anregung der Melaninbildung in der Haut, die Anregung einer Verdickung der Hornschicht (sog. Lichtschwiele).
 
Bei Überdosierung löst die Ultraviolettstrahlung den allgemein bekannten Sonnenbrand aus. Brennen, Rötung und Schwellung sind die allgemeinen Zeichen einer klassischen Entzündung. Das Pellen der Haut nach übermäßiger Sonnenbestrahlung ist die Reaktion auf eine schwere Hautschädigung.
 
Andere Wirkungen der Ultraviolettstrahlung sind die Hautalterung (Elastosis cutis), die Kanzerogenese (Basaliom, Spinaliom, Lentigo maligna Melanom). Die langfristigen Folgen der Ultraviolettbestrahlung sind eng mit der über Jahre kumulierten UV-Dosis korreliert. Diese belastende Faktoren erfordern eine genaue Dosierung der Sonnenbestrahlung im Rahmen der Heliotherapie. Entsprechend der unterschiedlichen Empfindlichkeiten der Haut gegenüber der UV-Strahlung ist eine nach Tagesund Jahreszeit differenzierte Strahlungsexposition einzusetzen.
 
Die wichtigsten Indikationen für eine therapeutische Nutzung der Ultraviolettstrahlung der Sonne sind die Psoriasis vulgaris, die Neurodermitis und Akne vulgaris. Bei der Behandlung chronischer Dermatosen kann zusätzlich zur UV-Strahlung Meerwasser angewandt werden.
 
Über diese physiologischen Wirkungen hinaus hat der Aufenthalt an der See erhebliche psychologische Effekte, die wesentlich zum Erfolg der Thalassotherapie beitragen. Das Erlebnis des Meeres und der Küstenlandschaft steht in so ausgeprägtem Kontrast zum Alltagserleben der meisten Menschen in der modernen Gesellschaft, dass eine effektive Entkoppelung vom beruflichen und häuslichen Milieu erreicht wird. Milieuwechsel, Abschalten und Entspannung tragen nicht allein zur psychischen Entlastung und Erholung bei, sondern sind exzellente Voraussetzungen für edukative Maßnahmen im Umgang mit chronischen Erkrankungen und für deren seelische Bewältigung.

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