Die deutschen Kurorte und ihre natürlichen Heilmittel
Dipl.-Volkswirt Burkhard Stoyke
Patienten sind in der besonderen Situation einer Kur, sich fern des Wohnumfeldes mit Krankheit und auch Tod auseinander setzen zu müssen, stark seelisch belastet. In vielen Heilbädern und Kurorten bieten die Kirchen und Religionsgemeinschaften in vielfältigen Formen Beistand an.
Chronisch Kranke ebenso wie Patienten in der Rehabilitation, in Anschlussheilbehandlungen sowie auch bei präventiven Maßnahmen (z. B. Mutter-Kind-Kuren) erleben sich in der wohnortfernen Kur in einer spezifischen Ausnahmesituation, die oft zum Nachdenken über sich selbst, die familiären und sozialen Lebensbedingungen und die persönlichen Verhaltensweisen führt. Dabei bietet die Kur auch die Chance zum Umdenken und eine neue Einstellung zum persönlichen Krankheitsstatus zu gewinnen.
Die dem Kurwesen inhärente Sichtweise von Krankheit, Gesundheit und Krankheitsbewältigung beruht auf dem Prinzip, dass Seele und Körper in einem Gleichgewicht ruhen müssen. Gesundheit ist nicht statisch, sie muss in jedem Lebensabschnitt kontinuierlich gepflegt bzw. wieder erworben werden. Einige Patienten finden diesen Ausgleich selbst. Für viele Patienten und Kurgäste ist hierzu jedoch auch ein geistlicher Beistand sehr hilfreich. Bei dem Gefühl, seinem Krankheitsschicksal ausgeliefert zu sein, können Seelsorger Trost geben und Hoffnung aufrecht erhalten; denn auch die christlichen Kirchen gehen von dem Seele und Leib umfassenden Gesundheitsund Krankheitsbegriff aus, der die Kurortmedizin prägt.
Es ist die gemeinsame Überzeugung, dass Millionen erschöpfter, krankheitsgefährdeter und kranker Menschen, die jährlich die Angebote der Kurorte suchen, in ihrem Gesundheitspotenzial durch typische Defizite unserer modernen Gesellschaft überfordert sind, wie
Die Konzentration während einer Kurmaßnahme auf die eigene gesundheitliche Verfassung nötigt zur Auseinandersetzung mit sich selbst; mit den bewusst oder weniger bewusst erlebten Grenzerfahrungen, dass Gesundheit, Heilungsmöglichkeiten, ja selbst dem Leben natürliche Grenzen gesetzt sind. Statt die Krankheit, das Leiden und die Abhängigkeit von fremder Hilfe als persönliches Versagen zu erleben, kann diese Situation in eine Chance umgewandelt werden, die bisherige Lebensweise umzustellen oder auch bei bleibenden Beeinträchtigungen diesem Leben einen Sinn abgewinnen zu müssen, das nicht in Menschenhand liegt.
Denn die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Leiden impliziert grundsätzlich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Fragen stellen sich verstärkt, wenn sich ein Krankheitszustand so gravierend zugespitzt hat, dass eine Kur als letztes Hilfsangebot erforderlich ist. Dennoch versuchen nicht wenige, diese elementar mit sich selbst erforderliche Auseinandersetzung zu verdrängen. Andere hoffen auf die „Reparatur-Kunst“ der Ärzte und Therapeuten.
Dem stellen die Kirchen in vielen Kurorten ihre Kurseelsorge- Angebote entgegen; denn sie wissen, dass viele Menschen – auch ohne sich dessen bewusst zu sein – Heil suchen. Der kirchliche Dienst im Heilbad ist begründet und getragen vom Vertrauen auf die heilende Wirkung des christlichen Glaubens. In den krank machenden Lebensbedingungen kann der Glaube an Jesus Christus frei, sinnerfüllt und hoffnungsvoll machen, insbesondere in der Atmosphäre der Gemeinschaft, die den Glauben ermöglicht und festigt.
Die Kirchen bringen damit eine Dimension zur Gesundung des Menschen ein, die im Gegensatz zu psychotherapeutischen Verfahren nicht als Bestandteil im medizinischen Therapieplan stehen, aber für viele sowohl während der Kur als auch langfristig für ihr Leben ein wirksames Therapeutikum sein kann.
Dabei wenden sie sich nicht nur an Patienten und Gäste, die bereits im christlichen Glauben verankert sind und im Gottesdienst und der Verkündigung sowie vor allem beim Abendmahl und in der Heiligen Eucharistie Frieden mit ihrem Schicksal finden. Gerade auch den Kirchen Fernstehenden werden mit seelsorgerischer Zuwendung, Diskussionsveranstaltungen über Glaubens- und Lebensfragen, Förderung der Kreativität und auch Anleitung zur Wiedererlangung einer Mußefähigkeit und Selbstfindung durch Meditation bewiesen, dass Glaube und Kirche mitten im Leben stehen – und Hilfen bieten.
In diesem gemeinsamen Sinne haben der Deutsche Bäderverband, der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschlands und die Deutsche Bischofskonferenz bereits im Jahre 1982 in einer Gemeinsamen Erklärung zur Kur und Kur und Kurseelsorge den Willen verkündet, die „kirchlichen Angebote an die Kurgäste in ökumenischer Partnerschaft zu intensivieren“ und in gemeinsamer Verantwortung für die Heilung suchenden Patienten qualifizierte Angebote zu entwickeln, die den Kurpatienten in ihrer besonderen Situation helfen. Dabei bestand Einigkeit, dass der kirchliche Dienst im Kurort nicht nur als Privatangelegenheit religiös gebundener und interessierter Kurgäste angesehen wird, sondern als integraler Bestandteil eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts zu verstehen ist, der von allen Beteiligten in den jeweiligen Möglichkeiten und Aufgaben gestützt werden sollte.
Seit der Verabschiedung der Gemeinsamen Erklärung im Jahre 1982 in Bad Kissingen haben drei weitere gemeinsame Tagungen stattgefunden, in denen Erfahrungen ausgetauscht und interessante Anregungen für die praktische Kurseelsorge vor Ort aus der Praxis vermittelt werden konnten. Es erweist sich, besonders auch für die überwiegend kirchenfernen Patienten in den neuen Bundesländern, dass der Gottesdienst, die Verkündigung, Abendmahl, Beichte und Eucharistie zwar unverrückbar im Zentrum der Seelsorge stehen, aber auch unverbindlichere Formen der Ansprache gesucht und gefunden werden können.
Im Interesse eines ganzheitlichen Dienstes ist es auch nötig, nach den Defiziten des heutigen Menschen zu fragen, um ihm aus kirchlicher Sicht Impulse für ein neues Lebensgleichgewicht zu bieten. Dies kann auch außerhalb des Kirchenraumes in vielerlei kreativen, zum Teil lokal bestimmten Formen und Aktivitäten geschehen, die auf den ersten Blick keinen ausgeprägt kirchlichen Charakter tragen. Als Beispiele kann man aus der Praxis benennen:
Es hat sich eine vielfältige Kultur herausgebildet, deren Varianten vor allem von den persönlichen Kompetenzen und Prioritäten der verantwortlichen Geistlichen und Kurverantwortlichen geprägt sind. Die in der „Gemeinsamen Erklärung“ von 1982 formulierten Forderungen an die organisatorische Unterstützung der seelsorgerischen Arbeit durch Bereitstellung entsprechender Räume von Seiten der Kurverwaltung wird in zahlreichen Heilbädern und Kurorten in guter Partnerschaft problemlos realisiert. Kurverwaltungen stellen ihre öffentlichen Aktivitäten den Kirchen als Plattform zur Verfügung, zum Beispiel bei der Begrüßung der neuen Kurgäste, bei Veranstaltungen und in den Kurzeitschriften. Das Engagement und die Lebendigkeit in der Zusammenarbeit von Kurverwaltung und Kurseelsorge bieten ein weites Feld, der Symbiose von Medizin, Spiritualität und Kurort-Ambiente eine Heilwirkung zu verleihen, die rein rationalen wissenschaftlichen Parametern verschlossen bleibt.
Ein grundsätzlicher Konflikt, der sich auch in den verschiedenen Formen der praktizierten Kurseelsorge zeigt, ist die Frage, ob die jeweiligen Seelsorger ihre Aufgabe darin sehen, die Verkündigung Jesu Christi missionarisch im Sinne der Pfingstbotschaft zu vertreten oder ihre Dienste aus Barmherzigkeit und Nächstenliebe im Sinne der christlichen Lehre nach Jesu Aufforderung „Kommt zu mir, die Ihr mühselig und beladen seid“ anzubieten. Der Deutsche Heilbäderverband steht hinter der Botschaft, dass die Vertreter aller großen Religionen mit ihrem Beistand für den Nächsten in seiner Krankheitssituation Anlaufstelle und Helfer sein können. Es liegt an ihnen, mit ihrer Botschaft und durch ihr Handeln den Boden zu bereiten, dass der Glaube und die Einbindung in die Gemeinde als Gegengewicht zu der extremen Verwissenschaftlichung von Medizin und ärztlicher Kunst für die Menschen zu einem Gleichgewicht zwischen Rationalität und Sensibilität beiträgt.
Auch von anderen Religionen und Glaubensgemeinschaften bestehen in einer Reihe von Heilbädern Angebote zur Seelsorge und zur Teilnahme am örtlichen Gemeindeleben. Z. B. in Baden-Baden, Bad Ems, Bad Kissingen und Wiesbaden existieren bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert Gotteshäuser der orthodoxen Kirchen, deren geistliche Angebote seit der „Perestroika“ von Kurgästen aus Ost- und Südosteuropa verstärkt in Anspruch genommen werden.
In einer Zeit zunehmender Isolierung, Ausgrenzung und Vereinsamung von Mitbürgern, die wegen ihrer Krankheiten und infolge ihrer altersbedingten eingeschränkten Mobilität nicht mehr voll in der Gesellschaft mithalten können, wird die Bedeutung seelsorgerischer Betreuung in den Kurorten noch zunehmen.