Bei chronischen Erkrankungen stehen ganz andere Behandlungsziele und Erfolgskriterien im Vordergrund als bei akuten Erkrankungen, nämlich die Nachhaltigkeit des Therapieerfolges, die Verhinderung/Verlangsamung der Krankheitsprogression und Lebensqualität bzw. Leidensdruck der Betroffenen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Leidensdruck und als schlecht empfundene Lebensqualität heute die wohl wichtigste Triebfeder für die Nachfrage nach Leistungen im Gesundheitswesen darstellen.
Von der WHO wurde neben der gängigen klinischen Systematik der Erkrankungen, die auf nosologischen Aspekten von Erkrankungen aufbaut (ICD, International Classification of Diseases), schon vor mehr als 20 Jahren ein Klassifikationssystem entwickelt, das wesentlich auf dieser patientenzentrierten, individuellen Betrachtungsweise basiert (ICIDH, International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps). Im Mai 2001 wurde auf der 54. World Health Assembly der WHO ein umfassend revidiertes und konzeptionell erweitertes Konzept der ICIDH unter dem Acronym ICF (International Classification of Functioning, Disability, and Health) verabschiedet (resolution WHA54.21).
Das wichtigste Ziel der ICF ist, eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung der funktionalen Gesundheit zur Verfügung zu stellen, um die Kommunikation zwischen Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere in der Rehabilitation, sowie den Menschen mit Beeinträchtigungen ihrer Funktionsfähigkeit zu verbessern.
Eine Person ist demnach dann funktional gesund, wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren)
- ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten Normen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und –strukturen),
- sie nach Art und Umfang das tut oder tun kann, wie es von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),
- sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Art und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Schädigungen der Körperfunktionen/-strukturen und Aktivitätseinschränkungen erwartet wird (Konzept der Teilhabe).
Der „gesamte Lebenshintergrund einer Person“ ist dabei abhängig von Umweltfaktoren (Faktoren der materiellen, sozialen und verhaltensbezogenen Umwelt) und personbezogenen, persönlichen Faktoren (Eigenschaften und Attributen der Person wie z. B. Alter, Geschlecht, Ausbildung, Lebensstil, Motivation, genetische Prädisposition). Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) können sich auf die funktionale Gesundheit sowohl positiv (Förderfaktoren) als auch negativ auswirken (Barrieren) und sind deshalb für die Beurteilung der funktionalen Gesundheit einer Person von essentieller Bedeutung.
Das bio-psycho-soziale Modell, das der ICIDH zu Grunde lag, wurde mit der ICF erheblich erweitert und damit der Lebenswirklichkeit Betroffener besser angepasst.
Während die ICIDH in Deutschland nur sehr zögerlich angenommen wurde, scheint ihre Weiterentwicklung, die ICF als Maßstab auch für die Erfolgsbeurteilung zum Maß der Dinge zu werden: Im Sozialgesetzbuch neun (SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) wurden wesentliche Aspekte der ICF unter Berücksichtigung der in Deutschland historisch gewachsenen und anerkannten Besonderheiten aufgenommen. Bei Drucklegung dieses Werkes lag den Spitzenverbänden ein Entwurf des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen über die künftigen „Spielregeln“ im Bereich Rehabilitation zur Kommentierung vor, der sich exklusiv auf die ICF stützt.
Das Primat der Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung eines gesundheitlichen Problems durch den Patienten hat sich damit wohl endgültig im Bereich der chronischen Erkrankungen durchgesetzt, nachdem in den letzten Jahren in der medizinischen Forschung international bereits zunehmend eine Rückbesinnung auf den „klinischen Endpunkt“ zu beobachten war, z. B. an einer bemerkenswerten Zunahme der Bemühungen, geeignete „Messinstrumente“ für diese sog. Outcome- Forschung zu entwickeln. Da es bei einem Großteil der Patienten subjektiv empfundene Störungen, Beschwerden, Schmerzen etc. sind, die sie einen Arzt aufsuchen lassen bzw. woran sie den Erfolg der therapeutischen Bemühungen bemessen, ist es nur konsequent, diese subjektive Wertung in den Mittelpunkt der Erfolgsbeurteilung zu stellen und Lebensqualität nicht länger als einen „weichen“ Zielparameter von untergeordneter Aussagekraft zu betrachten: „Die Verbesserung der Lebensqualität ist nicht nur ein wichtiger Indikator des medizinischen Erfolges; sie ist das einzig beabsichtigte Therapieziel bei fast allem was wir tun in der Medizin“.
Inzwischen wurden auch Messinstrumente entwickelt, die es ermöglichen, über die Effektivität einer therapeutischen Maßnahme hinaus auch Kosten-Nutzen-Aspekte abzubilden, etwa durch sog. QALYs (Quality Adjusted Life Years), Dalys (Disability Adjusted Life Years). Dabei wird ermittelt, wieviel zusätzliche Lebenszeit bei einer bestimmten Lebensqualität sich durch eine therapeutische Maßnahme erzielen lässt.