Die deutschen Kurorte und ihre natürlichen Heilmittel

Das Kneippsche Naturheilverfahren

Univ. Prof. Dr. Dr. Dipl.-Phys. Jürgen Kleinschmidt / Dr. med. Heinz Leuchtgens

Kneipp-Kuren sind kurortypische Formen von Medizinischen Kuren, d. h. von wohnortsfern praktizierten „Intensiv- Seminaren in Sachen Gesundheit“. In den individuell vom Kurarzt aufgestellten Therapiekonzepten stellen die Güsse nach Kneipp eine Besonderheit dar gegenüber allen anderen sog. „Naturheilern“, die ebenfalls im Einsatz von kaltem Wasser einen Schwerpunkt sehen: als Therapieziel steht bei Kneipp ausdrücklich der Aspekt der kurz- und mittelfristigen funktionellen Übungseffekte im Vordergrund und nicht die Kompensation physiologischer Wärmeregulations- Leistungsdefizite. Damit kann man innerhalb der kurzen Applikationsdauern der Güsse (von wenigen Sekunden bis Minuten) nicht nur die eher empfindungsgemäße habituative Gewöhnung an das Ertragen von Kaltreizen bewirken, sondern durch iterative Anwendungen über Wochen hinweg eine funktionelle Adaptation mit allgemeinerer Folgewirkung (Kreuzadaptation) erreichen. Folgerichtig wird dabei auch nicht nur eine kleinflächig einwirkende Applikationsweise, sondern eine sukzessive auf möglichst große Hautareale einwirkende Anwendungsform gewählt. Dies erklärt, warum Kneippsche Verfahren nicht nur in der Kurortmedizin, sondern auch in anderen ärztlichen Spezialbereichen wie „Naturheilverfahren“ und „Physikalische Therapie“ unverzichtbar zum Curriculum gehören.

Naturheilverfahren im Rahmen der Schulmedizin

In der historischen Entwicklung der diversen medizinischen Fachdisziplinen kann man unterscheiden:
 
a) Klassische organ- oder organismus-orientierte Ur-Fächer wie z. B.
  • Innere Medizin
  • Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde
  • Orthopädie
  • Gynäkologie
Diese Fächer waren und bleiben der Kernbereich der universitären Schulmedizin.
 
b) Neuere1) methodenorientierte Fächer wie
  • Röntgenologie
  • Pharmakologie
  • Physikalische Medizin
  • Naturheilverfahren
Diese Fachbereiche sind dadurch gekennzeichnet, dass vor allem die Beherrschung spezifischer Methoden eine eigene Facharzt- und/oder Zusatz-Bezeichnung rechtfertigt.
 
Neueren Datums sind
c) situationsorientierte Fächer als eine weitere Gruppe von Spezialdisziplinen wie
  • Sportmedizin
  • Arbeitsmedizin
  • Flugmedizin
  • Tropenmedizin
  • Kurortmedizin
Zwar werden innerhalb dieser Fächer auch Akutbehandlungen2) etwa nach Sportunfällen, nach Arbeitsunfällen, bei akuten Infektionen oder nach akuter Überlastung durchgeführt. Der eigentliche Schwerpunkt der situationsorientierten Fächer und insbesondere der Kurortmedizin ist aber eher ein präventiver: es gilt, längerfristig einen nicht (mehr) akut-behandlungsbedürftigen Gesundheitszustand zu verbessern. Dabei stehen nicht nur primär- und sekundär-präventive, sondern auch rehabilitative bzw. tertiar-präventive Ansätze im Mittelpunkt des Interesses. Hierzu interessiert weniger die Pathogenese und eine substitutive Therapie, sondern die Salutogenese und eine kompensatorische Adaptationsleistung des „ganzen“ Organismus.
 
Ein solcher ganzheitlicher Ansatz, der sich gar nicht mehr einen wesentlichen Erkenntniszugewinn aus einer naturwissenschaftlichen Aufklärung monotherapeutischer3) Wirkungswege verspricht, ist im Hinblick auf die Vermittelbarkeit an Medizin-Studenten, sprich Schulmedizin, prima vista suspekt. Gleichwohl gibt es naturheilkundliche Verfahrensvorgaben oder Rezeptiervorschläge mit vorhersagbaren4) Wirkungen. Bei solchen Verfahren denkt man schnell an – im heutigen Sinne – Heilpraktiker, also an nicht-ärztliche Therapeuten wie Schroth, Prießnitz, Felke oder Kneipp. Unter diesen hat zweifellos Sebastian Kneipp die größte Breitenwirkung erzielt. So gibt es Kneipp-Kurorte und Kneipp-Heilbäder bundeseinheitlich, Felke-Kurorte und Schroth-Heilbäder nur in einzelnen Bundesländern5).

Die Kneippschen Therapiesäulen

Aus dem Lebenslauf von Sebastian Kneipp (geb. 17.5.1821 in Stephanried bei Ottobeuren und kurz nach seinem 76. Geburtstag am 17.6.1897 in Bad Wörishofen gestorben) heraus lässt sich eine Entwicklung ableiten, in der der zunächst als Knecht, Maurer und Tagelöhner arbeitende Jugendliche Naturbeobachtungen übt. Als er ab 1842 gleichsam auf dem 2. Bildungsweg die Zugangsvoraussetzungen zum Theologiestudium nachholt und ab 1848 als Münchener Theologie-Student kaum noch in freier Natur bei Feldarbeit als vielmehr in Bibliotheken und Studierstuben zu Hause ist, entwickelt er sich zu einem „körperlichen Sensibelchen“, das schließlich an Lungentuberkulose erkrankt. Er sucht Literatur zur Gesundheit und findet u. a. das 1833 in der 5. Auflage erschienene Buch „Unterricht von der wunderbaren Heilkraft des frischen Wassers bei dessen innerlicher und äußerlicher Anwendung auf die Leiber, durch die Erfahrung bestätigt“ von Dr. Johann Sigmund Hahn (1694-1773). Kneipp testet im Dezember 1849 die Wirkung kurzdauernder kalter Immersionsbäder im Dillinger Donauabschnitt am eigenen Leibe aus und leitet damit – nach Eigenbeobachtung – seine Genesung ein. Hieraus resultiert seine unbedingte Überzeugung von der Notwendigkeit einer Abhärtung als Allheilmittel. Anders als seine anderen vorgängigen und zeitgenössischen „Naturheiler“, die auf kaltes Wasser in den verschiedensten Anwendungsformen abheben, hat Kneipp aber schon bald erkannt, wie wichtig die individuellen Prädispositionen für thermische Reize sind. So wendete er sich von den Immersionsbädern schon sehr bald ab und den – ursprünglich nur kalten – Güssen zu. Auch erkannte er, dass kalte Wasseranwendungen umso stärkere Reaktionen hervorrufen, je wärmer die Haut des Patienten ist und schrieb eine vorgängige Erwärmung in Form körperlicher Arbeit, insbesondere durch Holzhacken6), vor. Schließlich führte er die schneller durchführbare direkte Erwärmung durch warme Güsse ein – ausdrücklich von ihm als Vorbereitung der eigentlichen Behandlung durch den anschließenden kalten Guss gewertet. Die Kneippschen Wechselgüsse sind das wohl typischste Kennzeichen der Kneippschen Thermo-Hydro-Therapie: es ging Kneipp hierbei nicht um kompensatorischen Wärmeentzug aus entzündetem Gewebe (wie bei kalten Wickeln) oder um kompensatorische Wärmezufuhr bei chronisch entzündlichen Gelenksbeschwerden (wie bei warmen Heusäcken), sondern um Übung der körpereigenen Thermoregulation (Abb. 1). Thermotherapeutische Anwendungen wie wechselwarme Kneippsche Armgüsse, bei denen in den wärmeentziehenden Kaltphasen die erst kurz zuvor applizierte Gewebeerwärmung aus der Warmphase wieder zunichte gemacht wird, wirken auf diese Weise belebend, kreislauffördernd und letztlich stoffwechselsteigernd. Gegenüber der sonstigen Zielrichtung, substitutiv auf die eine oder andere thermotherapeutische Weise fehlende Wärme in den Körper oder überschüssige Wärme aus einem Gewebebereich zu transportieren, stehen eben thermophysiologische Steuerungsgesichtspunkte im Vordergrund, die auf die Differentialempfindlichkeit der Thermorezeptoren abzielen. Bekanntlich haben Normalgesunde ja die phantastische Fähigkeit, sich mehr oder weniger schnell an die Umgebungsbedingungen anzupassen. In der Adaptationsphysiologie wird hierbei genauer unterschieden zwischen
  • langfristiger Strukturadaptation, etwa dem Muskelzuwachs nach ständiger Belastung oder der Fettbildung in kalten Umgebungsbedingungen,
  • mittelfristiger funktioneller Adaptation wie der effizienteren Gefäßtonusregulation, die bei Fischern zu beschleunigter akraler Wiedererwärmung nach vorherigem Eintauchen der Hände in kaltes Wasser führt und
  • kurzfristiger Habituation, mit der wir uns u. a. sehr schnell an die Geruchsverhältnisse in Räumlichkeiten gewöhnen, während der nichtadaptierte Neuankömmling beim Betreten des Raumes erst einmal zurückzuckt.
 
Bei den in der Kneipp-Kur vorliegenden Krankheitsbildern reicht es oft aus, vergleichsweise mit einfachen Mitteln einen „eingeschlafenen Buchhalter“ wach zu rütteln, um nicht nur diesen zur normalen Diensttätigkeit zu veranlassen, sondern durch (quasi konsensuelle) Mund-zu- Mund-Propaganda auch Kollegen in anderen Filialen in Hab-Acht-Stellung zu versetzen. Solche neuronal vermittelten Gefäßreaktionen auf Warm- und Kaltreize, z. B. in Form eines wechselwarmen Armgusses, führen auch konsensuell zur Mitreaktion an der nicht vom Guss betroffenen Hand. Deren Ausmaß bleibt zwar begrenzt. Immerhin kann man solche – u. a. auch an der Nasenschleimhaut zu messenden – Mitreaktionen als zumindest mitbestimmenden Faktor der Abhärtungswirkung von Kneippschen Anwendungen betrachten: ein schneller reagierendes Gefäßsystem ist besser gegenüber infektiösen Erregern gewappnet als bei verminderter Reagibilität. Die konsensuellen Reaktionen gelten deshalb als eine Eingangsstufe zur Kreuzadaptation, die als Erklärungsmodell vieler so genannter unspezifischer Therapiewirkungen herangezogen werden kann (Abb. 2).
Insofern ist der Theologe und Heilpraktiker Kneipp auch für naturwissenschaftlich ausgerichtete Mediziner kein Antipode mehr, sondern er bietet – wenn auch eher im Nachhinein substanziiert als zur damaligen Zeit7) prospektiv geplant – eine Plattform zur Diskussion unterschiedlicher Denkansätze. Hierzu gehört auch der sukzessive Einbezug weiterer Therapieelemente in das Kneippsche Konzept wie Ernährung und/oder die Anregung vegetativer Funktionen durch Phytopharmaka. Nicht zu vergessen ist dabei die Kneipp gegebene Fähigkeit zur Menschenführung. Seine erst in den späten Lebensjahren niedergelegten Vorgaben „So sollt ihr leben“ (1893) bilden letztlich als Ordnungstherapie die Basis der einzelnen Therapiesäulen (Abb. 3). Die Compliance zu seinen Therapievorgaben wurde zweifellos auch begünstigt durch seine Autorität als Pfarrer.
 

Kneippsche Anwendungen in der Kurortmedizin

In den Spezialgebieten bzw. für die ärztlichen Zusatzbezeichnungen
  • Kurortmedizin (Badearzt, Kurarzt)
  • Physikalische Therapie
  • Naturheilverfahren
gibt es Gemeinsamkeiten, wobei insbesondere
  • die Kneippsche Thermo-Hydro-Therapie
  • die Bewegungstherapie und
  • die Ordnungstherapie
von allen drei Gebieten „beansprucht“ werden (Abb. 4).
 
Diese Gemeinsamkeiten verbinden, während die die Spezifität beschreibenden Unterschiede schwerer darzustellen sind. Bei Physikalischer Medizin assoziiert man die Beherrschung physikalisch-technischer Verfahren. Hinsichtlich der Naturheilverfahren vermutet man demgegenüber einen bewussten Verzicht auf unnatürliche- apparative wie auch synthetisch-pharmazeutische Therapiemethoden und erwartet statt dessen eine besondere Beobachtungs- und Interpretationsgabe für die Wirkung von Heilmitteln aus der Natur8). Demgegenüber gehören in den Curricula der Weiterbildungskurse, die zur Erlangung der ärztlichen Zusatzbezeichnung „Naturheilverfahren“ vorgeschrieben sind, durchaus auch z. B. synthetische Chelatbildner, elektrotherapeutische Reizstromgeräte oder künstliche UVStrahler zum Lehrstoff mit der Begründung, dass dabei letztlich besser und höher dosierbar als in der Natur im Grundsatz natürliche Steuer- bzw. Einflussgrößen angewendet werden.
 
In der Tat sind die Unterschiede zwischen Vertretern von Therapierichtungen
  • mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung
    und solchen
  • mit naturkundlicher Einstellung
an anderer Stelle zu suchen. Gemeinsam haben die drei Fächer der Abb. 4 enge Beziehungen zu nicht-medizinischen Disziplinen. Es stehen jeweils
  • einmal eher akademische und
  • zum anderen gesundheitsökonomisch motiviert erscheinende Interessen, mit möglichst einfachem Aufwand zielgenau möglichst viel Wirkung zu erzielen
im Vordergrund.
 
Dabei leistet man sich bewusst Redundanz in einem multimodal angesetztem Therapieprogramm mit der Hoffnung, compliancefördernd die inneren natürlichen Selbstregulationspotenziale zu fördern. Das Kneippsche Konzept ist dafür ein Musterbeispiel, das über den Erfahrungshintergrund des Heilpraktikers Kneipp hinaus auch interessante medizintheoretische Facetten beinhaltet.

Endnoten

  1. Ausnahme: Chirurgie
  2. Sie entsprechen damit der (Noch-)Domäne in der heutigen Mediziner- Ausbildung, die zu schätzungsweise über 80 % auf Akut- Diagnostik und auf kurzfristige Akut-Substitution/-Elimination von Defiziten (z. B. Sauerstoffversorgung) oder Überproduktionen (z. B. Fiebersenkung), bevorzugt mit allopathischen Medikamenten, eingerichtet ist.
  3. Das ist die Domäne von EBM-bewerteten Studien zur Pharmakon-Wirkung.
  4. In hinreichender Vorhersagewahrscheinlichkeit.
  5. Dies gilt auch für See- und Seeheilbäder.
  6. Hieraus wurde später die Kneippsche Therapie-Säule „Bewegungstherapie“ systematisiert.
  7. Kneipp’s Buch „Meine Wasserkur – durch mehr als 35 Jahre erprobt“ erschien 1894.
  8. Es kann hier darauf verzichtet werden, zu diskutieren, ob unter diesem Gesichtspunkt dann nicht auch künstliche Herzklappen oder Stahl-Knie-Ersatz-Gelenke zu den natürlichen Therapieformen gezählt werden müssten. Ebenso stellt eine Unterscheidung zwischen Allopathie (mit dem Schwerpunkt einer synthetischen Wirkstoffherstellung) und Phytotherapie (mit einer eher extraktorientierten Heilpflanzenverarbeitung) mehr eine Orientierungshilfe dar als ein trennscharfes Kriterium zur Differenzierung unterschiedlicher Therapieansätze.

Die deutschen Kurorte und ihre natürlichen Heilmittel

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